Geschichten und Geschichte

Museumsvisionär Fritz Wichert (1909-1922): „Kunst für alle“

Mit einer „Meisterausstellung“ der bedeutendsten französischen und deutschen Maler des 19. Jahrhunderts eröffnet die Kunsthalle im Dezember 1909 als erstes Museum Mannheims. Ort des Geschehens war der Jugendstil-Bau, errichtet zum 300-jährigen Jubiläum der prosperierenden Industriestadt. Der 31-jährige Gründungsdirektor überzeugte das Mannheimer Bürgertum durch ein visionäres Strategiekonzept. Mit privaten Spenden schuf er eine der ersten öffentlichen Sammlungen moderner Kunst weltweit. Schon im Februar 1910 konnte Wichert das epochale Schlüsselwerk Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko von Edouard Manet für 90.000 Goldmark erwerben. Es folgten Meisterwerke von Monet, van Gogh, Cézanne. Von konservativen Kreisen angefeindet, errang die Kunsthalle Mannheim im Kampf um die Moderne einen legendären Ruf. 1911 gründete Wichert den Freien Bund zur Einbürgerung der bildenden Kunst in Mannheim. Sein Motto war „Kunst für alle“.1914 wurden 7.000 Mitglieder gezählt. Sein zukunftsweisendes Bildungskonzept richtete sich vor allem an die bildungshungrige Arbeiterschaft. Die Akademie für Jedermann offerierte wöchentliche Lichtbildvorträge, Sammlungsführungen und didaktische Ausstellungen. Wichert zielte mit seiner deutschlandweit Furore machenden „Mannheimer Bewegung“ nicht allein auf eine Reform der Institution Museum, sondern auf die positive Veränderung der Gesellschaft: „Durchdringung der Stadt und des Lebens mit der Kunst“.

Sachlichkeit und Abstraktion: Gustav Friedrich Hartlaub (1923-1933)

Mit kunstwissenschaftlicher Systematik und innovativen Ausstellungskonzepten bewirkte der zweite Direktor eine kulturelle Glanzzeit in Mannheim. Mit der Ausstellung Die neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei nach dem Expressionismus diagnostizierte er einen Epochenwechsel in der Gegenwartskunst. Neue Sachlichkeit setzte sich als kunsthistorischer Terminus für ein facettenreiches Spektrum von Wirklichkeitsnähe in Kunst, Fotografie und Lebensstil der Weimarer Republik durch. Zwei Jahre später stellte Hartlaubmit der Überblicksschau Wege und Richtungen der abstrakten Malerei in Europa erstmals die internationale Abstraktion in einem Museum zur Diskussion. Solitären der aktuellen Kunstentwicklung wie Edvard Munch, James Ensor, Max Beckmann widmete er umfassende Premieren. Im Zuge seiner programmatischen Ausstellungstätigkeiterweiterte er die Mannheimer Sammlung um expressionistische, neusachliche und internationale Positionen. Hartlaub wurde sofort nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aus seinem Amt entlassen. Im April 1933 fand die deutschlandweit erste Feme-Ausstellung unter dem Titel „Kulturbolschewistische Bilder“ in der Kunsthalle Mannheim statt. Vier Jahre später wurden 91 Gemälde, 8 Plastiken und 466 Papierarbeiten als „entartet“ aus städtischem Besitz enteignet – einer der größten Kahlschläge in der Museumsszene, der die Mannheimer Moderne-Sammlung bis heute prägt.

Experte für internationale Skulptur: Heinz Fuchs (1958-1983)

Der vierte Direktor wurde mit seinem Qualitätsanspruch für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zum geistigen Gewissen der Institution. Schon 1957/58 organisierte er die ersten Überblicksschauen zum deutschen und französischen Informel. Weitere Premieren folgten: Marc Tobey (1960), Francis Bacon auf dem Festland (1962), Retrospektiven von Hans Arp (1960) und Naum Gabo (1965).1970 schenkte Daniel-Henry Kahnweiler, der in Mannheim geborene Pariser Kunsthändler, 20 Papierarbeiten von Picasso. 1977 gründete sich der Förderkreis. Ins Zentrum seiner Sammlungspolitikstellte Fuchs die europäische Skulptur. Besonders interessierten ihn existentialistische und abstrakte Nachkriegsentwicklungen. Von Alberto Giacometti und Max Ernst bis zu Germaine Richier und Barbara Hepworth spannte sich das Spektrum seiner Erwerbungen. Er machte die Kunsthalle Mannheim zu einem führenden Skulpturenmuseum in Deutschland.1970 erschien sein Standardwerk Plastik der Gegenwart, illustriert mit Mannheimer Sammlungsstücken. Den Großen Fisch von Constantin Brancusi holte er – so wird erzählt – im weißen Lieferantenkittel persönlich aus dem Pariser Atelier nach Mannheim und machte ihn zum Herzstück der Jugendstil-Kuppelhalle. Die menschliche Figur blieb für Fuchs zentraler Impuls der Bildhauerei – auch in ihrer Abwesenheit. Seine streitbarste Themenausstellung hieß 1975 Der ausgesparte Mensch.

Chronologie

1907 Jugendstil zum Jubiläum
Zum 300-jährigen Stadtjubiläum Mannheims wird das Ausstellungsgebäude des Karlsruher Jugendstil-Architekten Hermann Billing mit internationaler Kunst eingeweiht.

1909 Mannheims Museum
Im Dezember 1909 eröffnet die städtische Kunsthalle als erstes Museum Mannheims. Der Gründungsdirektor Fritz Wichert legt mit kühnen Erwerbungen der französischen und deutschen Avantgarde den Grundstein für eine Modellsammlung der Moderne.

1910 Manet verändert Mannheim
Wichert erwirbt mit Hilfe von neun Mannheimer Bürgerinnen und Bürgern Édouard Manets Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko von 1868/69für 90.000 Goldmark.

1911 Kunsthalle für alle
Die Akademie für Jedermann offeriert der Mannheimer Arbeiterschaft ein populäres Bildungsprogramm. Mit didaktischen Ausstellungen und dem Kunstwissenschaftlichen Institut in der Alten Bibliothek sowie wöchentlichen Lichtbildvorträgen im Rosengarten erreicht die Kunsthalle 1913 fast 120.000 Menschen.

1921 Special: Skulptur
Mit der Schenkung seiner Lehmbruck-Sammlung initiiert der jüdische Mäzen Sally Falk den deutschlandweit bekannten Skulpturenschwerpunkt der Kunsthalle.

1925 Neue Sachlichkeit
Gustav Friedrich Hartlaub erfindet mit der Ausstellung Die neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei nach dem Expressionismus einen kunsthistorischen Epochenbegriff. Der internationalen Abstraktion und Max Beckmann widmet er erste Museumsausstellungen.

1933 Absturz in die Kulturbarbarei
Die Nationalsozialisten zerstören die Moderne-Sammlung. Beschlagnahmt werden 91 Gemälde, 8 Plastiken und 466 Papierarbeiten. Walter Passarge initiiert eine Sammlung moderner Werkkunst.

1945 Rehabilitierung der Moderne
Nach dem Zweiten Weltkrieg versucht Passarge,durch Rückkäufe und Neuerwerbungen die Lücken der Sammlung zu schließen und erweitert ihr Profil um abstrakte Malerei.

1962 Premiere Francis Bacon
Unter Heinz Fuchs erreicht die Kunsthalle mit spektakulären Ausstellungspremieren und dem Ausbau einer internationalen Skulpturensammlung deutschlandweites Renommee.

1969 Ein Fisch für Mannheim
Mit dem Einzug des Großen Fischs von Constantin Brancusi in die Kuppelhalle des Jugendstil-Baus erhält die Kunsthalle ein Symbol.

1977 Freunde der Kunst
Der Förderkreis der Kunsthalle wächst in den folgenden Jahrzehnten auf knapp 2.000 Mitglieder an und erwirbt für die Sammlung vor allem zeitgenössische Kunst.

1983 "Nutzarchitektur"
Der Erweiterungsbau des Mannheimer Architekturbüros Lange Mitzlaff Böhm Müller eröffnet am Friedrichsplatz; 25 Jahre später kann er die internationalen Museumsstandards nicht mehr erfüllen.

1990 Pioniertat Museumsshop
Manfred Fath gründet einen der ersten ehrenamtlichen Museumsshops und die Ausstellungs-GmbH. So finanziert er publikumswirksame Ausstellungen und Sammlungsankäufe.

2010 Leuchtturm Energieeffizienz
Der denkmalgeschützte Jugendstil-Bau wird für 22 Millionen Euro, gefördert von Land und Bund, generalsaniert und mitmodernster Museumstechnik ausgestattet. bogner cc. Wien entwickelt ein museologisches Nutzungskonzept für die Kunsthalle.

2012 Millionen-Spende
Mäzen Dr. h.c. Hans-Werner Hector, Mitbegründer der SAP, stiftet 50 Millionen Euro für einen Neubau am Friedrichsplatz. Imanonymen Wettbewerb mit 29 internationalen Büros belegt die Hamburger Architektensozietät von Gerkan Marg und Partner vor Volker Staab den ersten Platz. Die private Stiftung Kunsthalle Mannheim übernimmt als Bauherrin die Steuerung von Bauprozess und Budget.

2013 Leuchtender Jugendstil
Im Oktober 2013 werden die rekonstruierten Tageslichtgalerienmit Dix/Beckmann: Mythos Welt wieder eröffnet. Zum Abschied vom Mitzlaff-Bau führt Nur Skulptur!400 Werke der Sammlung in einer künstlerischen Inszenierung zusammen.

2017 Neubau-Übergabe
Am 18. Dezember übergibt die Stiftung Kunsthalle Mannheim nach knapp dreijähriger Bauzeit den im Budget fertiggestellten Neubau der Stadt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und baden-württembergischer Ministerpräsident Winfried Kretschmann feiern mit.

2018 Grand Opening
Am 1. Juni eröffnet die neue Kunsthalle mit einer unkonventionellen Neuinszenierung der Sammlung, neuerworbenen ortsspezifischen Werken zeitgenössischer Künstler und der ersten großen Wechselausstellung deskanadischen Fotopioniers Jeff Wall.

Über die Kunsthalle Mannheim

Die Kunsthalle Mannheim ist eine der ersten Bürgersammlungen der Moderne weltweit. 1909 als Museum gegründet, zählt die Kollektion der Kunsthalle zu den renommiertesten bürgerschaftlichen Sammlungen Deutschlands, die mit Spitzenwerken von Edouard Manet bis Francis Bacon in der Malerei und einem singulären Skulpturenschwerpunkt aufwartet. Das Kunstmuseum ist seit seinen Anfängen der Avantgarde zugewandt und den Menschen verpflichtet, ungeachtet ihrer Herkunft und Bildung. Mit einem in den Gründungsjahren formulierten innovativen Bildungsprogramm unter dem Motto „Kunst für alle“ und mit programmatischen Ausstellungen internationaler Ausrichtung prägt das Mannheimer Kunstmuseum die deutsche und europäische Museumsszene.

Die Kunsthalle Mannheim mit ihrem von Hermann Billing (Karlsruhe) entworfenen Jugendstilbau wurde zum 300-jährigen Stadtjubiläum 1907 errichtet und 1909 als erstes Museum der Stadt eingeweiht. Gründungsdirektor Fritz Wichert (1909-1923) legte den Grundstein für eine Mustersammlung der Moderne mit frühen Ankäufen der französischen Moderne mit Edouard Manet, Camille Pissarro und Vincent van Gogh. Das Interesse seines Nachfolgers Gustav F. Hartlaub (1923-1933) galt vor allem der gegenstandsbetonten Nachkriegskunst, der er den Namen „Neue Sachlichkeit” gab. Walter Passarge (1936-1958) baute während der Nazi-Diktatur die Sammlung unverfänglicher moderner Werkkunst auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden unter Heinz Fuchs (1958-1983) und Manfred Fath (1983 -2002) die Sammlungsschwer-punkte zeitgenössischer Skulptur weiter ausgebaut.

Am 01. Juni 2018 wurde der neue Museumskomplex eröffnet, ermöglicht durch die private 50-Millionen-Euro-Spende des SAP-Mitbegründers Dr. h.c. Hans-Werner Hector und Beiträge der Stadt Mannheim, des Landes Baden-Württemberg sowie vieler weiterer Spender als beispielhaftes Private-Public-Partnership. Als Bauherr fungierte eine eigens gegründete private Stiftung. Die neue Kunsthalle Mannheim ist ein „Museum in Bewegung“ im Konzept einer „Stadt in der Stadt“ – engagiert und mitreißend, innovativ und weltoffen. Grundelemente der Stadt wie Haus, Passage, Platz und Brücke sind Leitprinzipien der neuen Architektur von gmp – Architekten von Gerkan, Marg und Partner. Auch das kuratorische Programm knüpft an den Alltag und allgemein-menschliche Erfahrungen in der urbanisierten Gesellschaft an und wirft Fragen auf nach der Relevanz der Kunst für unser Leben heute.

Die Kunsthalle Mannheim erforscht seit 2011 systematisch die Herkunft aller Gemälde, Skulpturen und Grafiken in ihrem Bestand.

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