Mythos Madonna – ein Idealbild neu betrachtet

KUMA BLOG

08.10.21
Anja Heitzer

Mythos Madonna – ein Idealbild neu betrachtet

Die Vorstellung der liebevollen und fürsorglichen Mutter ist in unserer Gesellschaft tief verankert. Sie geht zurück auf das Idealbild der makellosen Madonna des Christentums, das noch heute unseren Blick auf Familienkonstellationen und Geschlechterverhältnisse prägt.

Das traditionelle Urbild der Maria mit Kind dient auch als Einstieg in die Ausstellung „MUTTER!“ Dieric Bouts‘ klassische Madonna mit ihrem blauen Mantel, dem sanften Blick und ihrer reinen Schönheit steht beispielhaft für eine Bildsprache, die in der Kunst- und Kulturgeschichte noch heute nachwirkt. Ihr langes, wallendes Haar ist so detailliert gemalt, dass die einzelnen Haarsträhnen deutlich sichtbar werden. Der helle Goldgrund scheint über den Rahmen des Bildes hinaus zu strahlen und enthebt die Szenerie der weltlichen Sphäre. Dennoch bemüht Bouts sich, die tiefe Bindung zwischen Mutter und Kind und das zutiefst Menschliche darin sichtbar werden zu lassen. Die Jungfrau Maria blickt liebevoll auf das Jesuskind in ihren Armen, das gedankenversunken mit einer Glasperle am Rosenkranz um seinen Hals spielt.  Das unschuldige Spielen des Kindes verleiht dem Gemälde eine intime und gleichzeitig unmittelbare und lebendige Wirkung.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein lässt sich ein großer Teil der Darstellungen von Mutter und Kind auf die christliche Madonna zurückführen. Besonders beliebt war das Thema auch bei männlichen Künstlern. Die Gegenüberstellung verschiedener Generationen im Bild oder die Darstellung des weiblichen Halbakts stellten interessante Sujets dar, die ihnen die Möglichkeit boten, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Romantisierende Gemälde stillender, in sich gekehrter Frauen oder harmonische Familienszenen skizzieren ein überhöhtes, dem Alltag entrücktes Idealbild. Weibliche Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz, Paula Modersohn-Becker oder Jeanne Mammen widmeten sich dem Thema hingegen oftmals aus einer sozialkritischen und persönlichen Perspektive. Sie zeigen schwangere Frauen, trauernde Mütter, monumentale Kinderporträts und aufrüttelnde Darstellungen der ungeschönten Realität zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Auch wenn das Thema der Mutterschaft noch heute zum Teil tabuisiert wird, lässt sich in der Kunst mittlerweile ein recht facettenreiches Bild von Mutterschaft zeichnen. So wird Dieric Bouts‘ Madonna im Rahmen der Ausstellung „MUTTER!“ zu einer Hintergrundfolie, von der sich das Bild der Mutter in viele Richtungen auffächert – von Frauen, deren Kinderwunsch unerfüllt bleibt, über queere Elternschaft bis hin zu ungewollten Schwangerschaften und dysfunktionalen Familienstrukturen. Künstler*innen nehmen Elternschaft heute als zentrales gesellschaftliches Thema wahr, das sich im Leben jedes Einzelnen auf verschiedenste Art und Weise manifestieren kann.

Weitere Blogbeitraege

Das große Fressen

Nahezu 200 Werke zählt die Ausstellung 1,5 Grad. Eines davon stellt der Kurator Sebastian Schneider genauer vor: Brakfesten / La Grande Bouffe von Anne Duk Hee Jordan und Pauline Doutreluingne. Hier erläutert er, was ihn an dem Werk begeistert und warum es für die Ausstellung ausgewählt wurde. Abb. 1 Anne Duk Hee Jordan & Pauline Doutreluingne,... Blogbeitrag lesen

Reload: Feminism

Für die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist gibt es in der Kunst keine Tabus und keine feste Ordnung: Im Medium des Videos kombiniert sie Unheimliches und Vertrautes und kreiert Bilder, die sich mit Körperlichkeit, Intimität und Sexualität beschäftigen. So auch in der 1986 gedrehten Videoarbeit "I’m Not The Girl Who Misses Much", mit der sie in den 1980er-... Blogbeitrag lesen

„Cobra ist eine Kunstform, die die Kindheit anstrebt… mit den Mitteln, die Erwachsenen zur Verfügung stehen“

Wie andere historische Künstlervereinigungen war auch die 1948 gegründete Künstlergruppe CoBrA einerseits auf der Suche nach einer neuen Sprache, neuen Vorbildern und Quellen der Inspiration, andererseits grenzte sie sich deutlich von Positionen ab, die künstlerisch wie gesellschaftlich als konventionell und überholt galten. Als zentral erwies sich die... Blogbeitrag lesen

Seelenverwandt - Anselm Kiefers Verhältnis zu Gershom Sholem und der lurianischen Kabbala

Eine Annäherung aus judaistischer Perspektive Wie wird einer der berühmtesten deutschen Künstler in der aktuellen Forschung behandelt? Gibt es zum Werk Anselm Kiefers überhaupt noch neue Ansätze oder gar offene Fragen, die es zu diskutieren gibt? Diesen Fragen stellte sich die Kunsthalle Mannheim anlässlich der Ausstellung „Anselm Kiefer“ im Jahr 2021 in... Blogbeitrag lesen

Kunst gegen alle Regeln

Materialexperimente und Graffiti bei CoBrA Ein Beitrag von Christiane Wichmann und Eva-Maria Winter „Wir weigern uns, die Kunst als das Eigentum genialer Menschen zu betrachten, und wir glauben, dass das ganze Volk genügend Möglichkeiten in sich trägt, um aktiv am künstlerischen Schaffensprozess teilzunehmen.“ 1 Mit ihren experimentellen Werken strebte... Blogbeitrag lesen

MELDEN SIE SICH FÜR DEN NEWSLETTER AN

Die Kunsthalle Mannheim informiert Sie regelmäßig über das Museum, aktuelle Ausstellungen und Veranstaltungen.

Anmelden