Schon der morgige Tag gibt sich hin, geboren zu werden (Teil I): Die Darstellungsweise von Müttern ist in Antagonismen eingeschlossen

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18.02.22
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Schon der morgige Tag gibt sich hin, geboren zu werden (Teil I): Die Darstellungsweise von Müttern ist in Antagonismen eingeschlossen

Ein Beitrag von Kathy Alliou (aus dem Französischen von Inge Hanneforth)

In Bezug auf die Mutterliebe antwortete Marguerite Duras ihrem einzigen Sohn: „Es ist die einzige Liebe, die ich als bedingungslos, absolut kenne. Sie hört nie auf. Sie widersteht jedem Sturm. Es gibt nichts, was man dagegen tun kann, es ist schlimm“. Duras war es auch, die am 17. Juli 1985 in der französischen Tageszeitung „Libération“ den skandalträchtigen Artikel „Sublime, forcément sublime Christine V." (etwa: Christine V. überwältigend, unbedingt überwältigend) veröffentlichte. In ihrem wahrscheinlich von einem halluzinatorischen oder phantastischen Schreibimpuls getragenen Text rechtfertigte Duras die Tat einer wegen Kindsmordes angeklagten Mutter mit dem Leben einer Frau, die in „Dressur“ und unter dem „Gesetz des Mannes“ gelebt habe, ein Leben voller Unterwerfungen ... Die Repräsentationen von Mutterschaft bringen ebenso viele Gemeinplätze wie Widersprüche hervor. Über die Interpretation dieser Begebenheit hinaus macht Duras deutlich, dass es keine Mutterschaft gibt, die von materiellen Bedingungen losgelöst ist, die das Leben der Mütter und das ihrer Kinder bestimmen. Wird hingegen die Mutterschaft aus einem vorwiegend idealisierten Blickwinkel dargestellt, der der religiösen Ikonografie der Jungfrau mit Kind oder Madonna entstammt, trägt die Opferdimension zu ihrer Sublimierung bei.

Mit der Fotografie „Diatribe“ (1985) inszeniert Jeff Wall in einer verwahrlosten und kurvenreichen Landschaft am Rand einer Stadt, einem Brachland, zwei junge Frauen, die zu Fuß gehen, eine der beiden mit einem Kind auf dem Arm. Bei der Konstruktion dieses Bildes geht es dem Künstler um die Darstellung der proletarischen Mutterschaft, die er in der Veröffentlichung  „Essais et Entretiens de Jeff Wall“ (2001) als „einen bürgerlichen Skandal, genauso wie die proletarische Prostitution“ bezeichnet. Proletarische Mutterschaft und proletarische Prostitution seien das Produkt vergleichbarer materieller Bedingungen. Jeff Wall weist in seiner Inszenierung unsichtbare Mütter die Kraft des Sprechens und Denkens zu. In der Tat spiegelt sich die Herausforderung, Sprache in der Fotografie darzustellen, häufig in den Inszenierungsentscheidungen dieses Künstlers. Die jungen Mütter unterhalten sich im Gehen, so wie Aristoteles mit seinen Schülern, den Peripatetikern, philosophierte. Die eigenartige Vokabel der Peripatetikerinnen hat sich gehalten als Bezeichnung für Prostituierte, die auf dem Bürgersteig auf und ab gehen und dabei hin und wieder mögliche Kunden ansprechen. Während die Prostitution von Natur aus spektakulär sei, sei die Mutterschaft nur dann spektakulär, wenn sie erotisch werde.

Dieser Aspekt der Erotisierung der Mutterschaft lässt einige christliche Idole, deren Grad an Nacktheit der religiösen Botschaft zu dienen oder verstören vermag, mit den Ikonen der Popkultur zusammentreffen, die ihre Mutterschaft stolz und als Ausdruck einer selbstgewählten Entscheidung inszenieren. Ihre Macht und Begehrlichkeit, die mit ihrem neuen Muttersein und ihrem veränderten Körper verbunden sind, würde dadurch gesteigert werden. So konnte man etwa Beyoncé als schwarze Madonna mit ihren Zwillingen in den sozialen Medien sehen oder auch Angelina Jolie auf der Titelseite des W Magazine, fotografiert von Brad Pitt, wie auch Bilder von Gisele Bündchen während eines Fotoshootings beim Stillen ihrer Neugeborenen.

Eine 23 Meter lange Nana liegt auf dem Rücken, ihr schwangerer Bauch ragt hervor, die Knie sind hochgezogen, und die Besuchermenge durchquert ihren Körper durch die Öffnung ihrer Vagina. Niki de Saint Phalle gelang mit ihrer Installation „Hon“ (Sie, 1966), das Kunststück, eine höchst spektakuläre Mutterschaft darzustellen –  ihr zufolge „die größte Prostituierte der Kunst“. In einer Zeit der sexuellen Befreiung wählte Jean Eustache den Dipol Mutter und Prostituierte als Argument für seinen Kultfilm „La Maman et la Putain“ (Die Mama und die Hure, 1968). Er vereint darin drei Hauptfiguren: zwei starke Frauen namens Marie und Veronika, zusammen mit einem müßigen und leichtfertigen Mann. In ihrem langen und ergreifenden Schlussmonolog erzählt die betrunkene Veronika, die Figur der Hure, von ihrem ausschweifenden Sexualleben als einer belanglosen Last. Denn „eine Hure, das gibt‘s nicht, das hat nichts zu bedeuten“, wie die Figur sagt. Dann setzt sie ihre Tirade fort, indem sie ein hyperbolisches Paarmodell fordert, in dem die starke Gravitation zwischen Liebe und heteronormativer Sexualität dazu führen soll, „ein Kind zu machen“, „ein Kind, das uns ähnlich ist“. Denn ein Paar, das sich kein Kind wünscht, „ist kein Paar, sondern ein Stück Scheiße, es ist nichts, ein Staubkorn“.

In unseren liberalen Gesellschaften wird der Zugang zur Mutterschaft gleichermaßen von materiellen Bedingungen bestimmt, insbesondere aber für diejenigen, die nicht in der Lage sind, Kinder zu gebären wie zum Beispiel unfruchtbare Menschen, Menschen, bei denen eine Schwangerschaft oder Geburt ihre Gesundheit oder ihr Leben gefährden würde, wie auch Männer, und für andere, die sich für alternative Wege zur Elternschaft entscheiden. Die wissenschaftlich-technischen Vorrichtungen zur Überwindung von Unfruchtbarkeit oder als Ersatz für die biologische Mutterschaft, also die medizinisch unterstützte Fortpflanzung und die Leihmutterschaft, unterliegen gesetzlichen Normen, ethischen Standards und finanziellen Kosten, die von Land zu Land unterschiedlich sind. Die Verwicklungen des Mutterschaftsmarktes, die Irrwege, auf die er führen kann, und ihr psychischer Tribut stehen im Mittelpunkt von Lucy Beechs Video „Reproductive Exile“ (2018). In dieser Fiktion wird die Vernetzung zwischen den an diesem System teilnehmenden Frauen hervorgehoben: der Geschäftsfrau, dem medizinischen und helfenden Personal und der Hauptfigur als Zeugungsaspirantin. Es entsteht eine Schicksalsgemeinschaft rund um die Behandlung der Körper, der Hormone, der Flüssigkeiten und ihrer Apparatur mit anderen nichtmenschlichen Protagonisten, den Pferden. Lucy Beech wählt die Erzählform des Roadtrips, um dieses Exil zu beschreiben, also die Grenzen der vertrauten Welt zu überschreiten. Elina Brotherus' Fotoserie „Annonciation“ (2009-2013) schildert ganz unbeschönigt und klar ihre eigene Erfahrung mit In-vitro-Fertilisation, die Gnadenlosigkeit der Wiederholung der Zyklen, der Gesten und des Wartens. Das Duell, das sie mit sich selbst austrägt, ist ein einsames.

Die essentialistischen Vorstellungen der Frau bestimmten ihre soziale Rolle durch die Tatsache, dass sie eine Gebärmutter hat; also wurde die Frau auf die ausschließliche Mutterrolle beschränkt oder es wurde versucht, widerspenstige Bekundungen dieses unter Kontrolle stehenden Körpers zu regulieren. Die sogenannten Stimmungen, die von ihrem Reproduktionsapparat erzeugt werden, bildeten die lange als Hysterie beschriebene Kehrseite dieses Stereotyps. Der Absolutismus der Zeugung reservierte nur den Männern den vermeintlich konkurrierenden Bereich der Schöpfung. In den 1970er-Jahren begannen Künstlerinnen damit, dieses Stigma umzukehren, indem sie ihre Erfahrungen mit Schwangerschaft und Mutterschaft zum eigentlichen Thema ihrer Kunst machten. Mary Kellys wegweisendes Werk „Antepartum“ (1973) und „Post-Partum Document“ (1973-79) ist der Höhepunkt dieses Prozesses. Letzteres entspricht der Formensprache der Konzeptkunst, die sensible und reflexive Elemente der allmählichen Entwicklung der Subjektivität einer Mutter in sich aufnimmt. Die Künstlerinnen haben die Verpflichtung zur Mutterschaft manchmal umgewandelt oder zurückgewiesen, auch in ihrem Werk. In ihrem Super-8-Film „Mirage“ (1974) inszenierte sich Ana Mendieta nackt in der Natur auf dem Boden kauernd, mit ihrem durch einen Spiegel sichtbaren Spiegelbild. Schließlich schlitzte sie mit einem Messer ihren vorgewölbten Schwangerschaftsbauch auf, bei dem es sich natürlich um eine Prothese handelte, dem zahlreiche kleine weiße Federn entsprangen. Diese verwirrende Gestik kann von einer Künstlerin, die die meisten ihrer Performances in der Zeit der Land Art an natürlichen Orten durchführte, als Anspielung auf eine Natur verstanden werden, die jenseits biologischer Vorstellungen von menschlicher Mutterschaft auf unterschiedliche Weise alle Arten von Wesen hervorbringen kann.

Um aus all den Antagonismen herauszukommen wäre es ein Fehler, sich auf die Illusion der Einheit eines Muttersubjekts zu beschränken, denn was der Prozess der Subjektivierung ermöglicht, ist Werden, Dezentrieren, Delinearität und Vielheit.

Wir danken Kathy Alliou, Directrice du département des œuvres, Beaux-Arts de Paris, für die kuratorischen Ideen, mit denen sie die Vorbereitung der Ausstellung Mutter! bereichert hat.

*Der Titel dieses Textes ist der Titel von Luce Giards Einleitung zu dem Essay von Michel de Certeau „La Prise de parole“, (1994)

 

 

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