Transkription
Sprecher:
Wie kaum eine andere Epoche zuvor war die Kunst der Weimarer Republik an der Darstellung des Menschen interessiert. Gleichzeitig war die Zeit von einem Hang zur Systematisierung und Typisierung geprägt. Gemalt wurden Menschen in ihrem Milieu, oft begleitet von Attributen, die auf den ausgeübten Beruf hinwiesen. Viel stärker als etwa Gefühlsregungen wurden äußerliche Charakteristika betont. Emotionslos, distanziert, melancholisch ist zumeist der Gesichtsausdruck. Es dominiert der ins Leere gerichtete Blick, der mit einer passiven Körperhaltung und einer einengenden räumlichen Situation einhergeht. Erstarrung ist das oft benutzte Wort, um die Wirkung der Bilder zu beschreiben.
Sprecherin:
Wichtigster Vertreter eines entfremdeten Menschenbildes ist der Maler Anton Räderscheidt, der 1925 mit zwei Werken in der Mannheimer Ausstellung vertreten war. Räderscheidt gehörte in Köln zum Kreis der Dadaisten um Max Ernst sowie zu den „Kölner Progressiven“ um Franz Wilhelm Seiwert und Heinrich Hoerle. Wie schon Schrimpf und Grosz empfing er wichtige Eindrücke durch die metaphysische Malerei, die Pittura metafisca de Chiricos und Carràs.
Sprecher:
In Räderscheidts Arbeiten äußern sich Distanz und Entfremdung zwischen den Geschlechtern durch Starre, Isolation und Kommunikationslosigkeit der Figuren inmitten kahler Räume und Plätze; so etwa in dem 1921 entstandenen Bild „Junger Mann mit gelben Handschuhen“, in dem man den Künstler selbst erkennen kann. Wie eine Schneiderpuppe steht er mit Anzug, Fliege und Bowlerhut starr vor einer menschenleeren, sterilen städtischen Kulisse.
Sprecherin:
Im Gemälde Haus Nr. 9, ebenfalls von 1921, zeigt Räderscheidt die Begegnung von Mann und Frau: Es ist Marta Hegemann, seine Ehefrau, die ebenfalls als Malerin arbeitete. Die Beziehungslosigkeit der beiden sich bewegungslos einander gegenüberstehenden Personen wird durch die strenge, auf wenige Linien reduzierte Geometrie der Stadt untermauert. Über Haus Nr. 9 äußerte Räderscheidt im Schriftwechsel, dass er es für sein „wesentlichstes Bild“ halte. Nicht von ungefähr zählt es heute zu den Hauptwerken der Neuen Sachlichkeit beziehungsweise des Magischen Realismus.
Anton Räderscheidt (1892–1970)
Junger Mann mit gelben Handschuhen /
Young Man with Yellow Gloves
1921
Öl auf Leinwand / Oil on canvas
27,4 × 18,6 cm
Galerie Berinson, Berlin
Foto: Friedhelm Hoffmann, Berlin
© VG Bild-Kunst, Bonn 2024