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Alexander Kanoldt. San Gimignano

Neue Sachlichkeit - 922

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Sprecherin:

Ein wichtiges Merkmal neusachlicher Raumvorstellung ist die Unzugänglichkeit: Barrieren versperren die Wege, Fluchtlinien führen extrem steil in die Tiefe, Innenräume sind Orte klaustrophobischer Beklemmungen. Das Gegenteil davon – auch dies ein Phänomen der Neuen Sachlichkeit – ist die unverstellte Weite in Form des Panoramas. In diesen Darstellungen wird der Mensch oft mit seiner Verlorenheit konfrontiert. Kanoldts menschenleere Bilder nutzen eine tektonisch geometrisierende und flächenbetonte Formensprache, die Landschaft und Architektur gleichermaßen behandelt und mit starken Schattenwirkungen arbeitet.

Wie in dem Gemälde San Gimignano von 1922 zeigt Kanoldt Landschaften als Träger von Stimmungen – eigener Stimmungen aber auch Stimmungen, die sich seiner Wahrnehmung nach im Laufe der Geschichte wie Sedimente über ihnen abgelagert haben. Die wahre Seele einer Landschaft kann man nicht einfach malen, sagt er. Man muss sie erst suchen. Und man muss erst alles niederreißen - Stein um Stein. Ambivalent bleibt allerdings, ob Kanoldt die von ihm beschriebene „kalte krystallklare Schönheit“ in San Gimignano nicht nur vorfindet, sondern sie aus sich selbst heraus dort aktiv gesucht hat. Sind es die Gespenster San Gimignanos oder die eigenen? Aber hören Sie selbst:

Sprecher (Zitat):

Alexander Kanoldt. San Gimignano. 

Im Frohndienst erbaut - von Willkürherrschaft geknechtet - durch Fanatismus heruntergebracht: das scheint im großen Umriß die Geschichte der Stadt der schönen Türme zu sein.

Wer in San Gimignano "Bilder" malen will, der gebe dieses Vorhaben von vornherein auf - die Stadt bietet nur Steine statt Brot - es gibt dort nichts zu "malen" - kaum Motive, bestenfalls Kulissen. Hier geht es um ein Anderes: um die Seele der Stadt.

Wer diese zu gestalten unternimmt, der suche sie erst - die Seele; an der Oberfläche wird er sie nicht finden. Nicht "malen" darf er - niederreißen muß er Stein um Stein und suchen. Erst wenn er gefunden zu haben glaubt, darf er beginnen, die Stadt auf seiner Leinwand von Neuem erstehen zu lassen - Stein um Stein. Aber auch diese harte Arbeit wird nur Versuch, Fragment bleiben.

Unerbittlich sind die Türme, unheimlich die Stadt; allenthalben hockt das Gespenst der Vergangenheit, verfolgt uns Schritt für Schritt und läßt uns nicht mehr aus dem Auge: wir fühlen es ständig auf uns gerichtet - es sorgt dafür, daß wir nicht froh werden und selbst am hellen Mittag frösteln.

Der blaue Himmel spendet keinen Trost - der Blick zu ihm hinauf muß ja die Türme überwinden - und hilflos bleibt er haften, geängstigt und überwältigt. Kalt stehen sie da, geisterhaft in all ihrer krystallklaren Schönheit - die Sonne selbst vermag es nicht, sie vom Spuke zu erlösen und ihnen Leben und Wärme zu schenken.

Unheil verkündend sind sie gedacht und dieser Gedanke wirkt magisch fort durch die Jahrhunderte.

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Alexander Kanoldt (1881–1939)
San Gimignano
1922
Öl auf Leinwand / Oil on canvas
55,5 × 135,5 cm
Kassel, Hessen Kassel Heritage

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