
Transkription
Sprecherin:
Die Ausstellung Tavares Strachan: SUPERNOVAS empfängt Sie mit einer raumfüllenden Installation: Lexikoneinträge ziehen sich über alle Wände bis zur Decke – in der Mitte des Raums ruht ein überdimensionales Buch, goldverziert, ein Wissensspeicher. Dieses Buch in der Ausstellung von Tavares Strachan lässt sich aber nicht durchblättern, da es unter einer Plexiglashaube verschlossen liegt. Es ist ein Gedankenexperiment, das mit großem Aufwand entstanden ist und nun als Objekt materialisiert vor uns ruht.
Unter dem Titel „Encyclopedia of Invisibility“ hat Strachan Tausende von Einträgen zu historisch marginalisierten Personen, Orten und Ereignissen zusammengetragen: ein Gegenentwurf zur Encyclopædia Britannica. Seit über einer Dekade dauert die Arbeit an, die Strachan in den ersten Jahren allein, heute mit Unterstützung weiterer Rechercheur*innen umsetzt. Inzwischen auf über 17.000 Einträge angewachsen, füllen diese ein Buch, das selbst zum Monument wird. Ein Monument nicht für eine, sondern für viele Geschichten.
Ein Ausgangspunkt für dieses Werk liegt unter anderem in der Kindheit des Künstlers begründet: Bei den Großeltern stand die Encyclopædia Britannica im Regal, in der die Lebensrealität der Bahamas, seines Umfeldes, seiner Heldinnen und Helden nicht stattfand. Über diese erfuhr er eher über die Musik, die ihm als Medium der Wissensvermittlung diente. Durch das formale Aufgreifen der französischen Encyclopédie als moralisches und politisches Werkzeug der Aufklärung übt Strachan einerseits deutliche Kritik an hegemonialer Wissensproduktion, wie Auswahl, Periodisierung und Nutzungsbedingungen. Andererseits nimmt er die universalistische Herausforderung an: das Weltwissen über marginalisierte Geschichten zu sammeln und zu katalogisieren. Strachan sagt:
Sprecher (Zitat):
„Diese verlorenen Geschichten sind überall um uns herum. Es gibt eine überwältigende Menge dieses Materials, und ich denke, es ist nicht nur für mich als Künstler wichtig, sondern für uns alle, die Zugang zu diesen Geschichten haben. Denn wenn wir sie erzählen, werden sie Teil unserer gemeinsamen Sprache. Die Frage der Zugehörigkeit ist hier von entscheidender Bedeutung: wenn man diese verborgenen Geschichten nicht versteht, versteht man auch nicht das Gesamtbild.“
Sprecherin:
Tavares Strachan lädt uns ein, neue Verknüpfungen zwischen Personen, Dingen, Geschichten, Geographien und Kulturen herzustellen. In diesem Sinne ist seine „Enzyklopädie der Unsichtbarkeit“ ein Buch zum Lesen und zugleich ein Objekt zum Betrachten.
Bisher war dieses Werk nicht direkt konsultierbar: In der Ausstellungen wird der Foliant geschützt unter Glas präsentiert. Strachan hat das gesammelte Wissen allerdings über eine eigene Unterseite der Online-Enzyklopädie Wikipedia veröffentlicht und schafft damit einen Zugang, der über den symbolisch-künstlerischen Akt des Ansammelns und Katalogisierens hinausgeht und dem Werk eine weitere Handlungs- und Bedeutungsebene hinzufügt. Im Atrium finden Sie eine iPad Station, auf der Sie selbst die „Enzyklopädie der Unsichtbarkeit“ durchsuchen können.
Tavares Strachan
Encyclopedia of Invisibility. 2014 –2018
Leder, vergoldetes Archivierungspapier, Ahorn, Filz, Acryl/
Leather, gilding archival paper, maple, felt, acrylic
Courtesy der Künstler / the Artist
Foto: © Heiko Daniels, Kunsthalle Mannheim 2025