„Umbruch“ – was bedeutet das eigentlich?

KUMA BLOG

10.07.20
Jennifer Meiser

„Umbruch“ – was bedeutet das eigentlich?

Im Laufe der inhaltlichen Konzeption ergibt sich die Titelfindung einer Ausstellung meistens von selbst. Diesmal haben wir lange über verschiedenen Arbeitstiteln gebrütet. „Umbau“, „Auftakt“ oder lieber „Aufbruch“? Schließlich die Entscheidung: „Umbruch“ – auch als Statement von Johan Holten zu seiner Funktion als neuer Direktor der Kunsthalle Mannheim zu verstehen. Mit seiner ersten Sonderausstellung „Umbruch“ stellt er seine Vision eines inhaltlichen Umbruchs des Museums vor, den er auf den architektonischen folgen lässt. Von welchen gesellschaftlichen „Umbrüchen“ die Ausstellung tatsächlich begleitet wird, konnte niemand ahnen: Aufgrund der anhaltenden Corona-Pandemie musste die Kunsthalle mehrere Wochen schließen und die geplante Eröffnung der Ausstellung im Mai wurde auf Juli verschoben. Radikale Einschnitte des Alltags – Kontaktverbote, Abstandsregeln, das Tragen von Masken und Hygienevorschriften – schaffen in der Bevölkerung ein neues Bewusstsein dafür, welche Privilegien mehrheitlich vorausgesetzt werden und wie schnell sich die vermeintliche Normalität jedes*r Einzelnen, tatsächlich ändern kann – bis hin zur Einschränkung des eigenen Freiheitsgefühls. Dem zum Trotz wird die Welt Ende Mai abrupt mit dem qualvollen Tod von George Floyd durch einen Polizeieinsatz in Minneapolis konfrontiert, der uns alle bis ins Mark erschütterte. Seine Worte „I can’t breathe“ werden zum globalen Aufruf zu Anti-Rassismus-Demonstrationen, welcher in der Bewegung „Black Lives Matter“ auf den Straßen und in den Sozialen Medien ihren Ausdruck findet.

Im Kontext dieser wieder aufgeflammten Debatte gewinnt die 6-minütige Videoarbeit „Les Indes Galantes“ des französischen Künstlers Clément Cogitore einmal mehr an Aktualität. Der Künstler lud 2017 junge krump-Tänzer*innen ein, auf der Bühne der Pariser Opéra Bastille ein barockes Opernballett neu zu interpretieren. Der Freestyle krump hat seine Wurzeln im Hip-Hop und entstand in den 1990er-Jahren in Los Angeles als Reaktion auf extrem brutale Polizeigewalt gegenüber dem Afroamerikaner Rodney King und dem anschließenden Freispruch der Beamten. Jugendliche entwickelten den empathischen Streetdance krump als Protest gegen rassistisch motivierte Gewalt, Diskriminierung und soziale Ausgrenzung. In Cogitores „Les Indes Galantes“ tanzen sie zur in Frankreich sehr bekannten Musik des Komponisten Jean-Philippe Rameau. Das Stück wurde im frühen 18. Jahrhundert vom Rhythmus und Gesang zweier amerikanischer Indigener in Paris inspiriert. Der exotisierende Blick auf die nordamerikanischen „Wilden“ von einst wird durch den zeitgenössischen Auftritt reflektiert und die Lesart in die Gegenwart transformiert.

Mit getanzten Kampf- und Verhaftungsgesten im Zusammenspiel der mitreißenden Melodie beschwört das Werk Bilder von einem Tanz auf dem Vulkan herauf. „Es liegt auf der Hand, dass diese Explosion bis zu einem gewissen Grad politisch gedeutet wird“, so Cogitore in einem früheren Interview. Die Tänzer*innen artikulieren sowohl eigene Erfahrungen, als auch Emotionen der Gemeinschaft gegenüber rassistischen Mechanismen und Ungerechtigkeiten der Gegenwart. Die getanzten Bilder erinnern an die Nachrichtenbilder von demonstrierenden People of Color, die ihrem kollektiven Zorn Luft machen. Gleichzeitig wird dem underground-krump durch die Aufführung auf einer Opernbühne und der Präsentation im Museum die ursprüngliche Bedeutung ein Stück weit genommen – ähnlich einem Altar, der als Kunstwerk im Museum einen ganz anderen Kontext erfährt, als durch seine ursprüngliche Funktion in der Kirche.

In Cogitores Arbeit wird die Gewalt gesellschaftlicher Hierarchien verhandelt, die teilweise von Kulturinstitutionen mitbegründet werden. Besonders die Opernbühne gilt nach wie vor eher als ein elitärer, weißer Ort, dessen Raum die Tänzer*innen hier für einen kurzen Augenblick übernehmen. Wie die Mehrheit unserer Gesellschaft ist auch die deutsche Kunst- und Kulturlandschaft von Machtstrukturen geprägt; auch hier liegen soziale und ethnische Ungleichheiten auf verschiedenen Ebenen vor. Es fällt nicht leicht, sich Vorwürfen zu stellen, sich einer unangenehmen Rolle zuzuordnen, sich unsicher zu fühlen, kurz: Zuzuhören – beziehungsweise Hinzusehen. Beim Anschauen von „Les Indes Galantes“ verspüren wir etwas Mitreißendes, Befreiendes und wollen den Tanz noch einmal ansehen, in der Hoffnung, unsere Gefühle dann besser einordnen zu können, je nachdem, welchen Teilen der Gesellschaft wir uns zugehörig fühlen. Durch die Tanzenden wird uns allen ein Spiegel vorgehalten. Insbesondere Kultur trägt eine soziale Verantwortung, zu kommentieren, zu hinterfragen, und dazu beizutragen, normative Wertvorstellungen in der Gesellschaft wahrzunehmen und perspektivisch zu verändern. Trotz oder gerade mittels Konfrontation, werden in „Les Indes Galantes“ soziale Vorurteile interdisziplinär aufgebrochen und diese als aktiv gestaltbar behandelt – auch für die transkulturelle Metropole Mannheim und ihre Kunsthalle eine unmittelbare Herausforderung.

Weitere Informationen zur Ausstellung sowie den Trailer finden Sie hier.

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