Bewegte Zeiten

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Kinetische Kunst aus der Sammlung der Kunsthalle

Bereits im frühen 20. Jahrhundert begannen Künstler*innen, Bewegung zum integralen Bestandteil des Kunstwerks zu erheben. Zeitlich parallel wurden an verschiedenen Orten Werke entwickelt, durch die Bewegung nicht mehr nur dargestellt, sondern als reelle Kraft integriert sein sollte. Naum Gabo und Antoine Pevsner experimentierten in Moskau mit motorisch angetriebenen Konstruktionen und schwingenden geometrischen Objekten; gemeinsam veröffentlichten sie 1920 das Realistische Manifest, in dem sie den Begriff der Kinetischen Kunst prägten. Marcel Duchamp entwickelte in Paris sein bewegliches Objekt Roue de bicyclette und filmische Werke wie Anémic Cinéma; László Moholy-Nágy entwarf am Bauhaus mit dem Licht-Raum-Modulator einen „Apparat zur Demonstration von Licht- und Bewegungserscheinungen“ und hielt das abstrakte Formenspiel in Fotogrammen fest.

Es sollte allerdings bis nach dem Zweiten Weltkrieg dauern, dass sich Kinetische Kunst und damit reale Bewegung, Licht und Zeit als künstlerisches Material vollends etablierten. Diese Dynamisierung der Kunst entsprach dem allgemeinen Lebensgefühl des gesellschaftlichen und industriellen Aufbruchs in den 1950er Jahren – sowohl im kriegserschütterten Europa, als auch in den aufstrebenden Gesellschaften des globalen Südens. Materialien und Erkenntnisse aus Wissenschaft und Technologie flossen in die künstlerischen Prozesse ein und das Verhältnis zwischen Werk, Künstler*in und Betrachter*in wurde grundlegend neu definiert: Das Publikum wurde fortan nicht mehr als passiv begriffen, sondern konnte sich aktiv an „offenen“ Kunstwerken beteiligen. Es entstanden Werke, die sich selbst bewegen, sich durch das Publikum bewegen lassen oder wiederum die Betrachtenden auffordern, sich zu bewegen.

Bahnbrechende Ausstellungen wie Le Mouvement in der Galerie Denise René in Paris (1955), Nove Tendencije in Zagreb (ab 1961) und The Responsive Eye im MoMA New York (1965) trugen zur Bekanntheit der Kunstrichtung bei, weltweit gründeten sich Gruppierungen, die sich mit ähnlichen Themen auseinandersetzten. Sie verband die Suche nach neuen Ausdrucksmittelnfür die Erfahrungen in einer Welt, die sich selbst in ständiger Bewegung befindet – bedingt durch die rasanten Entwicklungen in Technologie, den Massenmedien und der fortschreitenden Industrialisierung –und die unmittelbar auf und durch den Menschen wirken sollten.

In den 1970er Jahren löste sich die internationale kinetische Avantgarde zusehends auf, ihre Ideen wurden jedoch von den nachfolgenden Generationen weitergetragen und dienen bis heute als wichtige Bezugspunkte für die Auseinandersetzung mit Bewegung, Licht, Zeit und vor allem der Wahrnehmung und Interaktion zwischen Werk und Publikum. Dies zeigt sich sowohl in Nevin Aladağs Resonanz Raum, Mannheim (2020), der in regelmäßigen Abständen musikalisch bespielt wird, als auch in weiteren zeitgenössischen Werken, die sich an verschiedenen Orten in der Kunsthalle finden. Hierzu zählt auch die im Atrium rotierende Die bewegte Leere des Moments (2015-17) von Alicja Kwade oder Split Decision (2018) von James Turrell im Übergang zwischen Alt- und Neubau.