Risse in der Geschichte

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Im Fokus der Neupräsentation der Werke Anselm Kiefers aus der Sammlung Grothe stehen Aspekte des Risses in der Geschichte. Der Riss – sowohl als Denkfigur und in seiner Tatsächlichkeit – spielt in Kiefers Werken immer wieder eine zentrale Rolle. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust als Zivilisationsbruch bildet hierbei eines seiner dringlichsten Anliegen. In textlichen Fragmenten, disparaten Materialien, geschichteten Buchobjekten und tiefen Furchen in gemalten Landschaften findet Kiefers künstlerischer Umgang mit Erinnerung und eine Annäherung an das Unsagbare statt. 
Diese Annäherung verbindet ihn mit Paul Celan und Ingeborg Bachmann, die in ihrer Lyrik die Brüchigkeit der Geschichte in Sprache umsetzten. Für Kiefer sind ihre Gedichte und Schriften wie „Bojen im Meer“ – sie tauchen immer wieder auf, geben Halt und werden wiederholt in seine Werke eingeschrieben. Schwarze Flocken lautet der Titel eines Gedichts von Celan, den Kiefer in den Riefen der verbrannten und verschneiten Erde auf seinem gleichnamigen Bild zitiert. Die in die Landschaften von Die große Fracht und Böhmen liegt am Meer eingeschriebenen Passagen beziehen sich wiederum auf Texte Bachmanns.

Die Arbeiten Kiefers treten in Dialog mit Werken zeitgenössischer Künstler*innen, die sich ebenfalls mit dem Riss auseinandersetzen. Dazu zählt das Werk 47 Faults between Calais and Idomeni von Sven Johne, das Geschichte anhand von Brüchen in der Landschaft erzählt. Auf einer Reise von Frankreich bis nach Griechenland suchte der Künstler Orte auf, die stillschweigend Zeugnis der europäischen Geschichte ablegen: zugeschüttete Schützengräben, ehemalige Konzentrationslager, Grenzanlagen und Ruinen von Denkmälern. Hier betrieb Johne eine fotografische Spurensuche nach Rissen in der Erdoberfläche, die von Vergangenheit berichten und bis in unsere Gegenwart reichen.

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Annette Kelm nähert sich dem geschichtlichen Riss fotografisch über jene 30.000 Bücher, die am 10. Mai 1933 von nationalsozialistischen Studierenden auf dem damaligen Berliner Opernplatz verbrannt und in der Folge öffentlich als Beispiele für „jüdischen Zersetzungsgeist“ und „undeutsches Gedankengut“ verfemt wurden. Die sachlich-konzeptuell gehaltenen Fotografien zeigen eine Auswahl zeitgenössischer Erstausgaben, deren Einbände Kelm dokumentarisch festhält und die Frage nach der Darstellbarkeit des Holocaust und Möglichkeiten des kollektiven Erinnerns stellt. 
Anselm Kiefer erläuterte zu seinem künstlerischen Vorgehen einmal: „Ich erzähle in meinen Bildern Geschichte, um zu zeigen, was hinter der Geschichte ist.“ In diesem Sinne bietet die Präsentation einen Raum der Begegnung mit Modi der Überlieferung und Verbindungen zu aktuellen Zeit- und Sinnfragen.